Ein Blick auf die FDP in Regierung und Bundestag

Selbstverständlich freue ich mich mit Iver Petersen über die prominente Hochzeitsfeier unseres Parteivorsitzenden Christian Lindner und der attraktiven Franca Lehfeldt (siehe dazu Ivers lesenswerten Beitrag). Wenn eine kleine Nordseebrise Hollywood aus Sylt durch den deutschen “Blätterwald” und Mediendschungel weht, dann ist dies in diesen rauen Zeiten doch eher zu begrüßen. Auf jeden Fall kann ich mich dem Tadel jener nicht anschließen, die Anstoß an der kirchlichen Trauung eines konfessionell ungebundenen Paares nehmen. Die institutionelle Kirche sollte alle in ihren Gotteshäusern willkommen heißen.

Gleichwohl muss ich zugeben, dass mich bei einem Blick auf das Zeitgeschehen diese privaten Feierlichkeiten bestenfalls marginal interessieren. Völlig anders sieht es aus, wenn ich auf die politischen Umtriebe der FDP in Regierung und Fraktion im Berliner Bundestag schaue. Dann verfinstert sich mein Gemüt und mein Verstand beginnt zu rebellieren. Warum?  Weil ich mich in den von der FDP mitverantworteten politischen Entscheidungen kaum noch als liberaler Bürger wiederfinde. Immer wieder halte ich dagegen und sage zu mir selbst, dass die FDP als Teil der Ampel in eine gewisse Kabinettsdisziplin eingebunden ist, deren Kern die Richtlinienkompetenz des Kanzlers bildet – und dieser steht nun mal, seiner übergreifenden Verantwortung für das Wohl des Landes zum Trotz, vor allem für sozialdemokratische Inhalte (und Gepflogenheiten).

Stellt sich mithin die Frage: Wo sind für eine FDP in Regierungsverantwortung die Grenzen der Loyalität zu Entscheidungen, Gesetzen und Initiativen, die wesentlich von “rot” und “grün” geprägt werden. Und so gehört zu meinem Ringen um Verständnis für das Agieren der FDP auf der Berliner Bühne auch die Frage, ob sich in der aktuellen “roten” und “grünen” Politagenda vielleicht doch Inhalte verbergen, die sich durch geduldiges und wohlwollendes Hinterfragen und Analysieren als liberal entbergen lassen.

Was, frage ich mich, ist an der Wahl von Frau Ferda Ataman zur Antidiskriminierungsbeauftragten der Bundesregierung liberal? Es ist der Eindruck entstanden, dass ein überwiegender Teil der Bundestagsfraktion der FDP die Wahl einer Frau aus dem zutiefst antiliberalen identitätspolitischen Lager unterstützt hat, einer Frau, die Ethnien mit weißer Hautfarbe pauschal als strukturelle Rassisten identifiziert – und auf diese Weise genau dieses tut: rassistisch argumentieren. Meines Erachtens
wurde hier eine Grenze erwartbarer Loyalität überschritten.

Unter der Federführung des FDP-Ministers Dr. jur. Marco Buschmann wird derzeit ein sogenanntes “Selbstbestimmungsrecht” erarbeitet, das für Bürger ab 14 Jahren den Geschlechtswechsel mitsamt Vornamen “per Sprechakt” vor dem Standesamt gestatten soll. Sind die Eltern dagegen, entscheidet ein Familiengericht. Sind das liberale Vorstellungen? Gewiß, das Transsexuellengesetz ist reformbedürftig. Doch hier wird, weit über die mögliche Reform, einem Gesellschaftsverständnis Vorschub geleistet, das eher den durch und durch etatistischen Vorstellungen von Grünen und Sozialdemokraten entspricht. Dies ist nur einer der sich häufenden Fälle, in denen die Familie zugunsten staatlicher Institutionen geschwächt werden soll. Ich denke da beispielsweise an die offenbar auch von Minister Buschmann tolerierte Substitution des Familienbegriffs durch Institutionen wie “Verantwortungsgemeinschaft” oder “soziale Familie” (die zum Beispiel keine Verwandtschaft mehr kennen).

In seinen Wahlkampfreden hat Lindner zurecht immer wieder “Technologieoffenheit” eingefordert. Doch in diesen Tagen einer drohenden Energieversorgungskrise stimmt die FDP im Bundestag gegen einen Antrag der Union, der u.a. den Weiterbetrieb der bestehenden Kernkraftwerke vorsieht. Immerhin wird aktuell ca. 6-7% des deutschen Stromverbrauchs von nur drei KKW produziert, die nicht mehr Platz beanspruchen als drei Bauernhöfe. Kabinettsdisziplin? Diese Ablehnung in einer
Situation, in der die Energiepreise durch die Decke gehen und viele Mitmenschen nicht wissen, wie sie in naher Zukunft ihre Heizungs- bzw. Wohnungsnebenkosten zahlen können; zu einer Zeit, wo sogar ein Blackout ein nicht mehr gänzlich unrealistisches Szenario ist; zu einem Zeitpunkt, wo das Europaparlament mit deutlicher Mehrheit der Kernkraft das Label “grüne Energie” verleiht. Zu Recht übrigens; denn Kernkraft emittiert kein Klimagas CO2 (wie die fossilen Energieträger) und ist darüber hinaus unabhängig von Wind und Sonne (grundlastfähig), umweltfreundlich (geringer Landschaftsverbrauch) und sehr sicher.

Wobei man hinzufügen muss, dass die politische Klasse in Berlin so gut wie nichts dafür getan hat, dass sich die Kerntechnologie in Deutschland weiter entwickeln konnte und kann. Die deutschen Pioniere der Thorium- bzw. Flüssigsalzreaktoren, die den Atommüll recyclen, selbst wenig Müll erzeugen und kein Kühlwasser benötigen, wurden im Stich gelassen und forschen nun in Kanada und anderen Ländern weiter. Selbst die Erforschung der Fusionstechnologie wird hierzulande trotz spektakulärer Ansätze eher halbherzig unterstützt. Wie also soll ich bewerten, dass die FDP (wieder einmal) dazu beiträgt, die Kernenergie aus Deutschland zu verbannen, während der “Rest der Welt” – in Ermangelung von Speicherkapazität und eines jederzeit verlässlichen Angebots an Wind, Sonne und Wasser – für die Grundlast auf die klimaneutrale Kernkraft setzt.

Die Weigerung der FDP auf nationaler Ebene den Konflikt um die Kernkraft auszutragen, verursacht ungute Nebenwirkungen. Um diese zu benennen, muss ich ein wenig ausholen. Unter der rotgrün gefärbten Regierung von Frau Merkel wurde Deutschland nach dem sog. “Atomausstieg” in eine extreme Abhängigkeit von fossilen Energieträgern aus Russland gebracht. Dabei ist völlig unerheblich, dass der Bezug von preiswertem Gas nach Merkels Kalkül die durch den Ausstieg verlorene Grundlast ausgleichen sollte. Man hätte ja diversifizieren können und Gas auch woanders zukaufen oder gar selbst fördern können. Nun aber ist die Abhängigkeit von russischen Energieträgern dermaßen groß, dass Putin Deutschland nach Belieben erpressen kann. Und genau das geschieht. Die Speicher in russischem Eigentum wurden bereits vor Kriegsbeginn nicht mehr angemessen befüllt, die Pipelines werden gedrosselt und abgestellt. Und genau in dieser bedrohlichen Situation votiert der Bundestag mit den Stimmen der FDP gegen den noch verfügbaren Rest an Kernkraft. Die Folge: die von drohender Energieverknappung verängstigten Bürger rufen vermehrt nach Beendigung der Sanktionen gegen Russland, nach Inbetriebnahme von NS 2 und nach Stopp der Lieferung von Waffen an die sich gegen den völkerrechtswidrigen Überfall Russlands wehrende Ukraine.

Verstärkt wird die Erpressbarkeit Deutschlands zudem durch das von Grünen und SPD eisern betriebene Frackingverbot. Immerhin, die FDP muckte dagegen auf, ließ sich jedoch von Habeck und seinen Energielobbyisten offenbar erfolgreich zum Schweigen bringen. Aber gegen Frackinggas aus anderen Ländern gibt es keinen rotgrünen Widerstand. Dafür werden jetzt sogar Terminals im Eiltempo gebaut. Dasselbe gilt übrigens auch für Atomstrom, der zukünftig wohl vor allem aus Frankreich bezogen werden muss. Wo bleibt der öffentliche Aufschrei der FDP gegen diese Heuchelei?

In der Verkehrs- und Bildungspolitik – beide Bereiche ministeriell durch die FDP in der Bundesregierung vertreten – sieht es kaum besser aus. Gerade bejubelt Minister Volker Wissing das 9-Euro-Ticket als überwältigenden Erfolg, indem er u.a. auf die reduzierte Nutzung privater Kraftfahrzeuge verweist. Kein Wort dazu, dass es vor allem die Spritpreise sind, die viele Bürger dazu zwingen, das Auto stehen zu lassen. Ich meine, solche sozialpolitischen Wohltaten wie billige Tickets für öffentliche
Transportmittel sollten nicht die Priorität liberaler Erfolgsmeldungen sein, zumal die Bahn, einst Symbol deutscher Pünktlichkeit und Verlässlichkeit, ein überaus trauriges Bild abgibt.

Für die FDP sollte die private Nutzung öffentlicher Infrastruktur Priorität genießen. Doch wo bleiben die Initiativen zur Trennung von öffentlicher Schiene und privater Bahn? Wo bleibt die Debatte über Zustand und Nutzbarkeit unserer Verkehrsinfrastruktur von der Kommunalstraße bis hinauf zur Autobahn. Warum lässt die FDP zu, dass die Ausnahme für die Laufzeitverlängerung von Verbrennungsmotoren auf klimaneutrale E-Fuels reduziert wird? Wo bleibt die Technologieoffenheit?

Es gibt eine Anzahl von Themen, bei denen man den Eindruck erhält, dass die FDP sich gegen die rotgrüne Übermacht nicht durchsetzen kann – mit der Folge, dass FDP-Wähler sich enttäuscht abwenden und eine erfolgreiche Wiederwahl der Partei in den Bundestag bedrohen. Zu diesen Themen gehört beispielsweise das “Bürgergeld”. “Die Grundsicherung,” heißt es dazu im Wahlprogramm der FDP, “muss unbürokratischer, würdewahrender, leistungsgerechter, digitaler und vor allem chancenorientierter werden.” Sehr schön.

Allerdings interpretieren die Ampelpartner diese wohlklingenden Begriffe auf ihre Art. Während die FDP den Begriff der Würde noch mit Anreizen verknüpft (“Leistung soll sich lohnen”), will die SPD gänzlich auf Bedingungen bzw. Forderungen verzichten und auch die Grünen denken bei dieser Sozialleistung eher an weitergehende Freigiebigkeit, etwa mit Blick auf Flüchtlinge (Stichwort: Bürgergeld im Asylverfahren oder bei Duldung). Am Ende, so meine Befürchtung, werden sich die Koalitionspartner mit ihren etatistischen Vorstellungen durchsetzen.

“Im Jahr 2020 betrug der Umfang der sozialen Leistungen rund 1,1 Billionen Euro. Das entspricht rund 33,6 Prozent des BIP”, heißt es im Sozialbericht 2021. Der ohnehin schon adipöse deutsche Sozialstaat wird weiter wachsen – unter einer Regierung, an der die FDP beteiligt ist. Dass all dieses Geld erwirtschaftet werden muss, ist den Liberalen wohl klar, doch für die daraus folgenden Konsequenzen für das Staatshandeln kämpfen sie auf verlorenem Posten.

Zu den angesprochenen Themen gehört auch die Migrationspolitik, Stichwort “Einwanderungsgesetz”, wo ich von der FDP sehr viel mehr Druck in Richtung qualifizierte Zuwanderung (“braingain”) erwarte.

Und wenn wir schon einmal beim Thema Qualifizierung sind: Was hat die FDP-Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger in dieser Angelegenheit mit Blick auf unseren Nachwuchs vor? Wo bleibt die Debatte über die Orientierung am Bedarf und an den zukünftigen Notwendigkeiten, etwa die dringend notwendige Debatte über den Zustand der MINT-Fächer an den Schulen? Gerade weil Bildung und Ausbildung hauptsächlich Ländersache sind, wäre es wichtig, das die Bildungsministerin
etwas für die großen Linien, Strategien und Bildungsvisionen unternimmt.

Wenn die Ministerin über die Bedeutung von Präsenz-Unterricht angesichts drohender Verschärfung der Corona-Lage im Winter spricht, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Unterrichtsform auch deswegen präferiert wird, weil das “homeschooling” weder technisch noch von der Lehrerkompetenz her erfolgreich machbar ist.

Kurzum: von dem FDP-Personal erwarte ich Anregungen für eine Sanierung des inzwischen ziemlich heruntergekommenen Bildungsstandort Deutschland. Derzeit funktioniert die Allokation unserer Bildungsressourcen nicht mehr, auch nicht mit Blick auf die Qualifizierung für die sogenannten “Handwerksberufe”. Für die Zukunft lässt dies wenig Gutes erahnen.

Immerhin, Frau Stark-Watzinger beteiligt sich an einer öffentlichen Diskussion über die Freiheit von Wissenschaft und Forschung an der Humboldt-Universität Berlin. Anlass gab der durch Aktivisten der LGBTQ- bzw. LSBTI-Szene in “Kooperation” mit der Hochschulleitung verhinderte Vortrag einer Biologin über die Zweigeschlechtlichkeit in den Naturwissenschaften.

In meinen Zeilen fehlt bisher der Zuständigkeitsbereich unseres Finanzministers Christian Lindner. Mir scheint, dass eine angemessene gedankliche Auseinandersetzung mit den von Lindner verantworteten Aufgaben nur in Form der Tragödie erfolgen kann. Angetreten als Kämpfer für den schlanken Staat, als Anwalt des ausgeplünderten Steuer- und Gebührenzahlers, als Propagandist des unternehmerischen Handelns und des selbstmächtigen Lebensentwurfs scheint Lindner – und mit ihm “seine” Partei –
inzwischen in den Seilen zu hängen, gezeichnet von den politischen Schlägen der roten und grünen Kabinettskollegen. Die offenen und versteckten Staatsschulden erreichen Rekordstände, Steuererleichterungen sind in utopische Ferne gerückt, die Schuldenbremse wackelt bedenklich.

Wie bei keinem anderen “magenta/gelben” Minister verdichtet sich in der tragischen Figur Lindners der Eindruck, wonach die Ampel für die FDP eine toxische Machtkonstellation ist, die die Partei kaum unversehrt überleben wird. Die FDP wird von den beiden ökosozialistischen Partnerparteien geradewegs erdrückt. Was konnte die FDP bisher für die Stärkung der Marktwirtschaft, d.h. für die Stärkung der selbstbestimmt und in eigener Verantwortung handelnden Marktteilnehmer erreichen?

Was konnte die FDP für die Sicherung des Industriestandortes Deutschland bisher erreichen, für Bildung, Forschung und Entwicklung in den Zukunftsbereichen KI, Weltraum, Gentechnik und Fusionstechnologie? Wo bleibt die deutsche und europäische Kontrolle über die Wertschöpfungskette im strategischen Feld der Halbleiter? Welche Dämme konnte die Partei des freien, selbstbestimmten, republikanischen Individuums und der Menschenrechte bisher gegen ideologisierte kollektivistische
Identitätspolitik und Cancel Culture errichten?

Der dysfunktionale Zustand, auf den Deutschland aktuell mit kaum zu bremsender Dynamik zusteuert, ist nicht Folge des von Putin verantworteten Überfalls auf die Ukraine, sondern das Ergebnis einer langjährigen Politik “auf Sicht”, die bei der FDP auf allzu unkritische Zustimmung gestoßen ist. Der Krieg beschleunigt nun allerdings eine Entwicklung, die auch ohne diesen stattfinden würde. Heute, wo wir vor dem Scherbenhaufen unserer nicht vorhandenen Verteidigungsfähigkeit stehen, frage ich
mich, ob es liberale Politik ist, die Wehrpflicht für eine Parlamentsarmee auszusetzen und so die heranwachsenden Bürger um die Möglichkeit zu betrügen, etwas an das Land zurückzugeben, dem sie, alles Defiziten zum Trotz, so viel zu verdanken haben. Auch könnte eine gut organisierte Wehrpflicht dazu beitragen, die Bundeswehr zu stärken und Deutschland in die Lage zu versetzen, seine nach dem 2. Weltkrieg zuerst im Westen des Landes und dann auch im Osten erworbene Freiheit zu verteidigen.

Christian Lindner hat vor einigen Jahren den situativ nachvollziehbaren Satz gesagt, es sei “besser nicht zu regieren, als falsch zu regieren.” Damals wurde die Verhandlungskommission der FDP bereits während der Koalitionsgespräche von einer Allianz der Grünen mit Frau Merkels CDU über den Tisch gezogen. Es schien unvermeidlich, die FDP durch Verweigerung in programmatische Sicherheit und Unversehrtheit zu bringen. Heute habe ich allerdings den Eindruck, dass die FDP sich ohne Not die Butter vom Brot nehmen lässt. Nicht einmal der Koalitionsvertrag scheint ihr zu helfen.

Wie auch immer: zur Zeit trage ich die Mitgliedschaft in der FDP wie nasse Kleider. Ich fühle mich damit gar nicht wohl. Und dabei habe ich noch nicht einmal über die Lage der FDP in Thüringen gesprochen.

Autor: Prof. Dr. Dieter Hassenpflug,
Prof. emeritus der Bauhaus-Universität
Mitglied des FDP-Kreisverbands Weimar

 

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