am gestrigen 30. Dezember vor 100 Jahren, 1922, fand die Gründung der Union der sozialistischen Sowjet-Republiken (UdSSR, kurz: Sowjetunion, Bezeichnung auf russisch: Союоз Советских Социалистических Республик, СССР: Sojus Sowjetskich Sozialistitscheskich Respublik, SSSR) im Moskauer Bolschoi-Theater statt. Anlässlich dieses Jahrestag soll einmal auf die obige Frage/Unterscheidung eingegangen werden. Sie hat insofern für uns Relevanz, als dass wir Deutschen und die Europäer ebenfalls in einer Union leben, nämlich der  Europäischen Union (EU).

Die Fragen, die aufgeworfen und behandelt werden sollen, lassen sich so formulieren:
1.) War die Sowjetunion ein Reich (= Imperium) oder eine Union?
2.) Was macht den „Unions-Charakter“ der EU aus?
3.) Sollte die EU nicht besser ein „Reich/Imperium“ werden?

Diese Fragen haben vermutlich für viele Menschen einen suggestiven Unterton, da die Bezeichnungen „Union“ und „Reich“ im hiesigen Land mit positiven bzw. negativen Konnotationen verbunden sind. Dabei klingt das „Union“ für viele freundlicher und positiver als das Wort „Reich“, verbindet man doch gerade in Deutschland letzteres automatisch mit den Bezeichnungen „Deutsches Reich“ oder „Drittes Reich“, d.h. zwei Staatsformen, die letztlich grandios nach zwei verheerenden Weltkriegen gescheitert sind.

Bei den Briten ist dies vermutlich ganz anders, hängen doch viele noch dem „British Empire“ nach. Die nostalgischen Gedanke an dieses Weltreich, das vor den Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion die wichtigste Weltmacht war, hat wohl bei vielen von ihnen dazu beigetragen, dass sie sich für den Brexit und gegen die EU entschieden hatten. Und diese Einstellung wurde natürlich von verantwortungslosen (und unfähigen) Politikern gnadenlos befeuert. Doch kommen wir zur Beantwortung der ersten Frage.

ad 1) War die UdSSR eine Union oder ein Reich?

Betrachtet man sich das Vorgehen von Wladimir Putin im Ukrainekrieg und davor (siehe z.B. Blog „Es ist Krieg„) wie auch seine immer noch sehr große Unterstützung in der russischen Bevölkerung, so kann und muss man konstatieren, dass in der Selbstwahrnehmung der Russen (und so mancher Menschen in den ehemaligen „Unions-Staaten“ wie auch den angrenzten Staaten des sogenannten „Ostblocks“) es sich bei der UdSSR um ein Reich, sprich eine Weltmacht mit positiver Konnotation gehandelt hat.

Die 15 Länder/Mitglieder der UdSSR seien an dieser Stelle nach ihrer Größe (nach Bevölkerungszahl im Jahr 1991) genannt:

  1. Russische SSR
  2. Ukrainische SSR
  3. Usbekische SSR
  4. Kasachische SSR
  5. Aserbaidschanische SSR
  6. Belarussische SSR
  7. Georgische SSR
  8. Tadschikische SSR
  9. Kirgisische SSR
  10. Moldauische SSR
  11. Litauische SSR
  12. Turkmenische SSR
  13. Armenische SSR
  14. Lettische SSR
  15. Estnische SSR

Zusammengehalten wurde diese „Union“ von der „gemeinsamen“ sozialistischen Grundüberzeugung, ihr Wahlspruch lautete „Proletarier aller Länder vereinigt Euch!“ ( „Пролетарии всех стран, соединяйтесь! (Transkription: Proletarii wsech stran, sojedinjaites!).

Die Bezeichnung „Sowjet“ bezog sich dabei einerseits auf die Bürger der Sowjetunion, andererseits auf die entsprechend bezeichneten Arbeiter-, Bauern- und Soldaten-Räte, die in den Jahren zwischen den Revolutionen von 1905 bis 1917 entstanden waren.

Es gab in den ersten Jahren nach der „Oktober-Revolution“ 1917 eine Diskussion, ob es überhaupt notwendig sei, in „Nationen“ zu denken, hatte Karl Marx (1818-1883) doch propagiert, dass der „Proletarier“ ein übernationaler Begriff sei, sprich der Begriff „Nation“ für ihn eine untergeordnete Bedeutung gegenüber dem verbindenden, sozialistischen Begriff des „Proletariat“ hatte, das sich vereinigen solle. Darin lag ja quasi der „revolutionäre“ Gedanke seiner (Staats-) Philosophie.

Interessanterweise waren es gerade die nicht-russischen Sowjet-Politiker der ersten Stunde, allen voran der Georgier Josef Stalin (1878-1953),die für einen Weg plädierten, über die „Nationen“ ein sozialistisches Reich zu implementieren.  Dagegen waren die „wahren“ Sozialisten wie etwa Leo Trotzki (1879-1940) und Nicolai Bucharin (1888-1938) dagegen. Stalin lies später die beiden wie auch die übrigen Mitglieder des 7-köpfigen Politbüros des Jahres 1924 (außer natürlich ihm selbst) liquidieren.

Es war damals ein geschickter Schachzug der kommunistischen Bolschewiki und ihrer „Roten Armee“, im Gegensatz zu den konservativen Kräften und ihrer „Weißen Armee“, dass sie es verstanden, die intellektuellen Führer in den einzelnen Nationen (und späteren Sowjetrepubliken) für ihre sozialistische Idee zu begeistern und sie machtpolitisch durch eine gewisse Eigenständigkeit ihrer Länder einzubinden. So behielten in der Sowjetunion alle Länder ihre eigene Amtssprache und sie hatten ihre eigene Hauptstadt.

In Selbstverständnis und  Machtausübung war die UdSSR zweifellos ein Reich, eine Supermacht. Doch in ihrem Gründungsakt handelte es sich gleichwohl um eine Union, die mit dem Einverständnis der Mitgliedsstaaten gegründet, aber auch wieder aufgelöst werden konnte. Und genau das passierte dann ja auch recht sang- und klanglos im Dezember 1991 im Rahmen der Alma-Ata-Deklaration. Alle Republiken wurden selbstständig. Die drei baltischen Republiken (Litauen, Lettland, Estland) gehören mittlerweile zur Europäischen Union.

Interessanterweise war erst der vierte Generalsekretär der KPDSU, Leonid Breschnew (1906-1982, Generalsekretär ab 1964) ein Russe. Sein Vorgänger Nikita Chruschtschow (1894-1971) stammte aus der Ukraine/dem Donzek-Becken. Man kann insofern konstatieren, dass die UdSSR mit einem russischen Politiker (Breschnew) ihren Höhepunkt erreichte, aber auch unter russischer Führung (Juri Andropow, 1982-1984;  Konstantin Tschernenko 1984-1985; und schließlich Michail Gorbatschow, 1985-1991) ihren Untergang erlebte. Dass es nun dem Russen Wladimir Putin (Jg. 11952) gelingt, das Sowjetreich wieder neu erstehen zu lassen, erscheint unter diesem Aspekt äußerst unwahrscheinlich. Siehe auch Blog „Über Wladimir und Wolodymyr„).

Rechtsnachfolger der UdSSR wurde die Russische Föderation/Russland, was dem Land unter anderem den Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen garantiert; ein Umstand, der vor kurzem von dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Frage gestellt wurde.

ad 2) Was macht den Unions-Charakter der EU aus?

Die Beantwortung dieser Frage wird unter anderem dadurch deutlich, dass man sich die Gegensätze zwischen der EU und der Sowjetunion vor Augen führt. Denn die EU ist zweifellos ein „freiwilliger Zusammenschluss“ von Nationen. Im Gegensatz dazu, muss man, wie oben ausgeführt, die „Freiwilligkeit“ des Zusammenschlusses der Sowjetrepubliken zur UdSSR  in Frage stellen. Zumindest galt: „Wer einmal drin war, kam nicht wieder raus.“ Es bedurfte der Implosion der gesamten Union, damit sich die einzelnen Republiken „vom Acker“ machen konnten.

Das ist bei der EU anders, wie das Beispiel des Austritts des Vereinigten Königreiches („Brexiit“) belegt. Er erfolgte freiwillig und war (ohne Krieg) möglich. Gleichzeitig wurde in den Brexit-Verhandlungen aber auch deutlich, dass die EU nicht bereit ist, mit Aussteigern allzu freundlich umzugehen. Das Ziel der Verhandlungen, die auf EU-Seite von dem Franzosen Michel Barnier (Jg. 1951) geführt wurden, war es offensichtlich, eine „Abschreckungs-Szenario“ für andere Austrittskandidaten in der EU zu entwickeln. Ob das auf Dauer dem Gedanken einer „Union“, d.h. eines freiwilligen Zusammenschlusses von Ländern zu Gute kommt, wird sich zeigen.

Denn letztlich war und ist ja genau dies das Ziel der EU: Der freiwillige Zusammenschluss von Nationen zur Aufrecht- und Beibehaltung eines friedlichen Europas, das auf gemeinsamen Werten basiert (bei nur leicht eingeschränkter staatlicher Souveränität).  Die EU war vorrangig ein Friedensprojekt mit dem Ziel, Krieg auf Europäischem Boden ein für allemal zu verhindern, waren doch von diesem Kontinent die beiden Weltkriege ausgegangen, Und als Vehikel zur Erreichung dieses Ziels dienen die Werte Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und nicht zu vergessen eine einheitliche und freie Handelszone.

Es scheint sinnvoll, immer mal wieder daran zu erinnern. Ein „Europäisches Reich“ hatte wohl keines der mittlerweile 27 Mitgliedsstaaten im Sinn, als es der EU beitrat. Dies sollte man bedenken bei der Diskussion über Mehrheitsentscheidungen etc. in der EU.

Ad 3) Sollte die EU nicht besser ein Reich/ein Imperium werden?

Dies ist unter Berücksichtigung der obigen Ausführungen eine rhetorische Frage. Sie soll im Wesentlichen die Widersinnigkeit solcher Überlegungen offenlegen. Die Umsetzung dieses Gedankens wäre aus hiesiger Sicht der Kern des Scheitern des Projektes der Europäischen Union. Gleichzeitig mag er aber auch die Schwachpunkte der EU offenlegen. Denn es ist ja auch die Verweigerung der EU bzw. ihrer Mitgliedsstaaten, ein geopolitische Machtposition einzunehmen, die von Ländern wie den USA oder der Volksrepublik China als Schwäche ausgelegt wird. In der Tat bedarf es bisweilen wohl eines entschiedeneren Auftretens der EU, um sich als weltpolitischer Akteur besser in Szene zu setzen. Europa und die EU verkaufen sich aus hiesiger Sicht aktuell „unter Wert“, wenn man seine wirtschaftlichen und „ideologischen“ Potentiale betrachtet. Auch militärisch könnte die EU wohl deutlich stärker auftreten, wenn es eine größere Bereitschaft zur Kooperation gäbe.

Gleichzeitig kann man an dem Brexit das Problem einer vertieften militärischen Integration dingfest machen. Denn im Falle eines Austritts aus der EU stellt sich natürlich automatisch die Frage: „Was passiert mit den militärischen Einsatzkräften und Waffen, die man einer „Europäischen Verteidigungs-Armee“ zur Verfügung stellt?“

Und diese Frage stellt sich natürlich ebenso, wenn in einem EU-Land ein Regierungswechsel ansteht, der die bisherige Zusammenarbeit und den Zusammenhalt in der EU in Frage stellt. Leider wird in vielen EU-Ländern mit „Europäischen Themen“ nationale Politik betrieben. Und das untergräbt natürlich die Schlagkraft und Glaubwürdigkeit der EU als Ganzes.

Die Frage, auf welchem Gebiet und wie die Integration der EU vorangetrieben werden sollte, verlangt insofern höchstes politisches Fingerspitzengefühl und viel politisches Geschick. Vermutlich wäre es bzgl. eines Fortschreitens der Integration sinnvoll, zunächst auf den Gebieten voranzuschreiten, auf denen bereits eine gewisse Einheitlichkeit besteht. Und das ist insbesondere auf dem Handels- und Währungs-politischen Feld (Euro, EZB, Handels-Union) aber auch dem militärischen Gebiet (NATO, Europäische Eingreiftruppen, etc.) der Fall.

In Anbetracht des Ukraine-Kriegs und der globalen Herausforderungen, aber auch der Spannungen auf dem Balkan, ist man am Übergang zu einem neuen Jahr geneigt auszurufen: „Europäische Union: Schreite mutig voran.“ In jedem Fall sei am Ende der Wunsch formuliert, dass (das Friedensprojekt) die EU länger Bestand habe als die Sowjetunion.

 

Bildquellen und Anregungen zu diesem Blog:

Flagge der Sowjetunion: Von СССР – http://pravo.levonevsky.org/. Construction sheet: Construction sheet of the flag of the Soviet Union.png., Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=343687

Sowjetische Republiken (nach alphabetischer Reihenfolge): siehe folgender Link

Flagge der EU: User:Verdy p, User:-xfi-, User:Paddu, User:Nightstallion, User:Funakoshi, User:Jeltz, User:Dbenbenn, User:Zscout370, Public domain, via Wikimedia Commons, siehe https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Flag_of_Europe.svg

British Empire: Urheber The Red Hat of Pat Ferrick, Public domain, via Wikimedia Commons, siehe https://commons.wikimedia.org/wiki/File:The_British_Empire.png

Erklärungen des Historikers Prof. Jörg Barberowski zu Gründung der Sowjetunion