Das Tor mach weit.
Es kommt der Herr der Herrlichkeit.
Ob Friedrich Nietzsche (1844-1900) wohl dieses beliebte, aus Ostpreußen stammende Kirchenlied gekannt hat? Denn um ihn und „sein“ Haus, das Friedrich-Nietzsche-Archiv geht es in unserem 5. Weimar-Rätsel.
Die Antwort ist: Sehr wahrscheinlich ja!
Religiöse Prägungen und Religionskritik
Denn Friedrich Nietzsche wurde 1884 als Sohn des lutherischen Pfarrers Carl Ludwig Nietzsche (1814-1849) in Röcken geboren, heute ein Stadtteil von Lützen im nahegelegenen Burgenlandkreis, zu dem auch Naumburg und Zeitz gehören. Dieser Abschnitt Deutschland wiederum gehört heute zu Sachsen-Anhalt, damals jedoch zu Preußen. Sowohl in der Familie des Vaters als auch der Mutter Franziska Nietzsche (1826-1897), geb. Oehler, gab es einen hohen Anteil protestantischer Pfarrer, die damals nicht selten das Bildungsbürgertum bildete und die Brutstätte bedeutender Köpfe war. So entstammte auch der Vater seines Zeitgenosse Karl Marx (1818-1883) sowohl väterlicherseits als auch mütterlicherseits einer Rabbiner-Familie. Vater Heinrich Marx (ursprünglich Heschel Levi (1777-1838), selbst war Anwalt und lies sich und seine Kinder später evangelisch taufen.
Sowohl Marx als auch Nietzsche sind später jedoch zu Atheisten „konvertiert“. So stammt von Friedrich Nietzsche der apodiktische Satz „Gott ist tot!“ während Karl Marx Feststellung „Religion ist das Opium des Volkes“ schon fast zum Allgemeingut gehört.
Nietzsche formulierte seinen Ausspruch in dem Werk „die fröhliche Wissenschaft“ (1882: „la gaya scienza“). Genau heißt es dort:
„Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, – ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir diess gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? […] Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder?“
Das Werk gilt als das letzte seiner freigeistlichen Episode. Man bekommt den Eindruck als beklagt Nietzsche hier eher den Verlust eines Gottes durch die „Gottlosigkeit“ der damaligen Gesellschaft. Doch findet er für sich und die Welt eine positive Lösung dieses Dilemmas. Er formuliert dies in seinem Hauptwerk „Also sprach Zarathustra“ (1883-1885, Untertitel: „Ein Buch für Alle und Keinen“):
„Todt sind alle Götter: nun wollen wir, dass der Übermensch lebe.“
Damit war die Saat gelegt für den „Herrenmenschen“ der Nationalsozialisten, die Nietzsche zu „Ihrem“ Philosophen und seine Philosophie zu ihrer Weltanschauung (Ideologie) erhoben.
Ähnlich ist es Karl Marx ergangen. Sein Ausspruch mit der Religion als Opium des Volkes stammt aus der zu Jahreswende 1843/44 verfassten Einleitung zu seiner Schrift „Zur Hegelschen Rechtsphilosophie“. Dabei sei angemerkt, dass die Ursprünge dieses gewaltigen Satzes nicht auf Marx zurückgehen. Der Titel von Marx Schrift bezog sich auf die epochemachende Religionskritik seines Zeitgenossen, den Philosophen Ludwig Feuerbach (1804-1872), der 1839 seine Schrift „Über Philosophie und Christentum in Beziehung auf den der Hegelschen Philosophie gemachten Vorwurf der Unchristlichkeit.“ veröffentlichte.
Die Formulierung von Karl Marx mag auch durch die Begegnung mit seinem Cousin 3. Grades Heinrich Heine (1797-1856) inspiriert gewesen sein, der bereits 1843 schrieb: „Heil einer Religion, die dem leidenden Menschengeschlecht in den bittern Kelch einige süße, einschläfernde Tropfen goss, geistiges Opium, einige Tropfen Liebe, Hoffnung und Glauben!“ Mit ihm verkehrte er während seine Zeit im Pariser Exil (1843-1845) intensiv, bevor er nach Brüssel und erneut Paris später London dauerhaft zu seinem Wohnort erwählte.
Der Begriff des „Priesterbetrugs“ oder „frommen Betrugs“ ist sogar noch viel älter und lässt sich bereits in der vorchristlichen Zeit finden. So soll Ovid (ca. 43 v. Chr. – 17 n. Chr.) den Begriff „frommen Betrug“ geprägt haben und der Vorsokratiker Kritias (ca. 460-403 v. Chr.), Onkel des Sokrates-Schülers Platon (427/428 – 348/347 v. Chr., Stichwort „platonische Liebe“), suchte nach einer Erklärung für die Entstehung der Religion und schrieb „Da scheint mir zuerst ein schlauer und kluger Kopf die Furcht vor den Göttern für die Menschen erfunden zu haben, damit die Übeltäter sich fürchteten, auch wenn sie insgeheim etwas Böses täten oder sagten oder dächten. Er führte daher den Gottesglauben ein.“ Kritias nennt ihn „die schlaueste aller Lehren.“ Weiter heißt es dazu in Wikipedia: „Kritias hebt zwei Seiten an der Erfindung der Religion hervor, einerseits den Betrug („indem er die Wahrheit mit trügerischen Worten verhüllte“), andererseits den Zusammenhang von Furcht und Religion. Beide Aspekte dieser Religionskritik kehren in der Geschichte der Antike, der Aufklärung und der Neuzeit wieder.“
Von „Fröhlicher Wissenschaft“ und „Meistersängern“ zur Staats-Ideologie
Womit wir wieder bei Nietzsche und Marx angekommen sind. Nun, man darf annehmen, dass Friedrich Nietzsche all diese alten Texte kannte, denn er war studierter Altphilologe, der mit gerade einmal 25 Jahren eine solche Professur an der Universität Basel antrat. Dort verkehrte er intensiv mit Richard Wagner (1813-1883), der sich in dieser Zeit in Luzern aufhielt und den er bereits zuvor mit seiner jungen Frau Cosima (1837-1930) in Leipzig kennen gelernt hatte. Er war von ihm initial fasziniert und hat sich auch intensiv schriftstellerisch/philosophisch mit ihm auseinander gesetzt („Der Fall Wagner“ 1888, „Nietzsche contra Wagner“, sein letztes Werk vor seinem Zusammenbruch 1889 in Turin), sah er in ihm doch nicht nur einen Musiker, sondern einen Philosophen.
Diesbezüglich sei angemerkt, dass sich sowohl Wagner mit den „Meistersingern“ als auch Nietzsche mit der „Fröhlichen Wissenschaft“ (= „Gaya Scienza“ oder „Gai saber“) auf die Dichtung mittelalterlicher Sänger und Troubadoure bezogen. Diese waren bei den „Meistersingern“ im Deutschland des 14.-15. Jahrhunderts beheimatet, vor allem Nürnberg, Augsburg, Straßburg und Frankfurt am Main, während die „Gai saber“ in der Provence, speziell Toulouse, des 13. und 14. Jahrhunderts seine Wurzeln hatte. Beide Strömungen gingen von einer Lehrbarkeit der Dichtung aus und propagierten eine ethisch ausgerichtete, normative Poetik.
Sowohl Nietzsche als auch Marx haben zu Lebzeiten nicht den Siegeszug ihrer Philosophie erlebt. Bei Marx sorgte dafür Friedrich Engels (1820-1895), der posthum noch einige Publikationen von Marx herausbrachte (1884: „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“, 1885: „Das Elend der Philosophie“ und der „Zweite Teil des Kapitals“) und insbesondere Wladimir Iljitsch Lenin (eigentlich Wladimir Iljitsch Uljanow, 1870-1924), der den Marxismus-Leninismus zu der anderen Staats-Ideologie erhob, die die Geschicke der Sowjetunion und all seiner Vasallen-Staaten dominieren sollte.
Bei Friedrich Nietzsche ist diese Entwicklung wesentlich seiner Schwester, Elisabeth Förster-Nietzsche (1846-1935), zu „verdanken“. Zusammen mit ihrem Mann, dem deutschnationalen Gymnasiallehrer Bernhard Förster (1843-1889), der wegen seiner antisemitischen Agitation vom Schuldienst suspendiert wurde, emigrierte sie nach Paraguay, um dort mit Gleichgesinnten die Siedlungskolonie „Nueva Germania“ (Neues Germanien) zu gründen. Als dieses Projekt scheiterte, es durch die Publikation eines enttäuschten Siedlers in Deutschland diskreditiert und ihm dadurch die finanzielle Grundlage entzogen wurde, beging ihr Mann in Paraguay Suizid. Sie selbst übernahm nach dem körperlichen und geistigem Zusammenbruch ihres Bruder Friedrich im Jahr 1889 dessen Pflege, Betreuung und Vormundschaft. Auch gründete sie in Naumburg, der an der Saale gelegenen Stadt in Sachsen-Anhalt, wo Sie und ihr Bruder aufgewachsen und zur Schule gegangen waren, 1894 das Friedrich-Nietzsche Archiv, welches sie 1896 nach Weimar transferierte und dort in der „Villa Silberblick“ ihre Bleibe fand. Das Foto der Eingangstür der Villa Silberblick bildete den Startpunkt des Rätsels.
Die Interpretation der Philosophie ihres Bruders beeinflusste sie so, wie es ihrer eigenen Gedankenwelt und derjenigen der Nationalsozialisten entsprach. So empfing sie Adolf Hitler (1889-1945) und weitere Größen des Nationalsozialismus mehrfach persönlich in dem nun Nietzsche-Archiv genannten Haus. Hitler wohnte ihrer Beerdigung 1935 bei. Die Nazis erhoben Weimar zu einem ihrer geistigen Zentren. Es wurde neben dem Haus eine Nietzsche-Gedenkhalle konzipiert, die jedoch unvollendet blieb. Die Villa von Hitlers Gauleiter Fritz Sauckel (1894-1946) in der Windmühlen-Straße 19/21 befand sich nur wenige Hundert Meter entfernt auf der gleichen Anhöhe von Weimar. Von hier aus hat man einen Blick hinüber zum weithin sichtbaren Glockenturm des Mahnmals des KZ Buchenwald auf dem Ettersberg und damit der Negativausprägung der nationalsozialistischen Ideologie.
Interessanterweise wurde dieses Mahnmal von 1954-1958 erbaut im Stil des Sozialistischen Realismus, d.h. von den Vertretern der zweiten Ideologie, die das 20. Jahrhundert maßgeblich bestimmt hat. Spirituelle Grundlage der Ideologien des Nationalsozialismus und des Marxismus-Leninismus waren die Philosophien von Friedrich Nietzsche und Karl Marx.
Kann man diese beiden Philosophen für die Interpretation ihres Gedankengutes verantwortlich machen und wären sie wohl damit einverstanden gewesen?
Sehr wahrscheinlich nicht. Denn Nietzsche war durch seine eigene Lebenserfahrung ein Europäer und im Geiste ein Weltenbürger, der mit seinem Werk „Also sprach Zarathustra“ quasi den Versuch unternahm eine neue Glaubenslehre zu entwickeln. Denn er berief sich mit Zarathustra auf Zoroaster, einen iranischer Priester und Philosoph, der im 2. oder 1. Jahrtausend vor Christus lebte und mit dem Zoroastrismus die erste monotheiistische Religion begründete, die noch heute im Iran (von den Parsen) und Indien praktiziert wird. Auch war er im Gegensatz zu Richard Wagner kein Antisemit, was ein Grund für das persönliche Zerwürfnis der beiden in seiner späteren Lebenszeit war.
Karl Marx war zwar eine durchaus streitbare und dominante Persönlichkeit, die aber gleichzeitig die persönliche Freiheit und die Pressefreiheit sehr hoch achtete. Insofern kann man auch bei ihm annehmen, dass er sich gegen die illiberalen und diktatorischen Tendenzen des Marxismus-Leninismus ausgesprochen hätte, speziell der Willkür-Herrschaft des Stalinismus, der ähnlich dem Nationalsozialismus Millionen von Menschen das Leben gekostet hat.
Villa Silberblick
Das Gebäude an der jetzigen Humboldtstraße wurde in der Gründerzeit Weimar in der damaligen Luisenstraße erbaut. Es weist, wie das Bild der Eingangstür erkennen lässt, Jugendstil-Elemente auf. Noch deutlicher finden sich diese Stilelemente in den Gebäuden am unteren Ende der Humboldtstraße. Das Gebäude selbst ging erst 1902 in den Besitz von Elisabeth Förster-Nietzsche über. Gekauft hatte es zum 1. Juli 1897 Meta von Salis (1855-1929), die es Elisabeth Förster-Nietzsche für das Nietzsche-Archiv zur Verfügung stellte. Doch kam es in der Folge zu einem Zerwürfnis zwischen den beiden Frauen wegen eigenmächtiger Umbaumaßnahmen von Förster-Nietzsche, die das Gebäude in der Folge von dem belgischen Künstler Henry van de Felde (1863-1957) renovieren lies. Heute beherbergt das Gebäude das Friedrich-Nietzsche-Kolleg, welches wiederum der Klassik-Stiftung angegliedert ist. Das eigentliche Nietzsche-Archiv befindet sich mittlerweile in der Obhut des Goethe- und Schiller-Archivs.
Elisabeth Förster-Nietzsche verkrachte sich noch mit so manch anderer Persönlichkeit, unter anderem Rudolf Steiner (1861-1925), der zwar nie offiziell beim Nietzsche-Archiv angestellt war, jedoch zeitweise das Vertrauen der Archiv-Leiterin besaß und 1895 die erste Nietzsche-Biographie herausbrachte.
Grabstätten
Während Marx im Highgate Cemetery im jüdisch dominiertem Stadtteil Camden von London beerdigt ist, starb Nietzsche zwar in Weimar, er ist jedoch in der Familiengruft in Röcken beerdigt. Dort befindet sich eine Gedenkstätte, die sich in der Trägerschaft des Evangelischen Kirchspiels Lützener Land befindet. Ob Nietzsche das wohl recht gewesen wäre?
Nun, vieles ist vergänglich. Doch Friedrich Nietzsche hat mit seinem Gedankengut zweifellos die Philosophie und so manches mehr in Wallung gebracht. Ob sein Einfluss so lange währen wird wie derjenigen der christlichen Kirche, bleibt abzuwarten. Zumindest ist zu konstatieren, dass die Christenheit so manch bedeutende Persönlichkeit eingenommen und vereinnahmt hat. Auch hat sie einige eingängige Texte und liebliche Melodien hervorgebracht hat, deren Wirkmächtigkeit man nicht unterschätzen sollte.
So sei dieser Artikel beendet mit dem Text der ersten Strophe des ostpreußischen Kirchenliedes, mit dem er begann:
Mach hoch die Tür
das Tor mach weit.
Es kommt der Herr der Herrlichkeit.
Ein König aller Königreich,
Ein Heiland aller Welt zugleich,
der Heil und Leben mit sich bringt;
derhalben jauchzt, mit Freuden singt:
Gelobet sei mein Gott,
mein Schöpfer reich von Rat.
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